Fast 40 Jahre nach der letzten Retrospektive feiert die Kunstwelt jetzt ein furioses Comeback. Neben 270 Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien, Grafiken und Originalkostümen des „Triadischen Balletts“ vermitteln auch bislang unveröffentlichte Dokumente die künstlerische Vision eines Jahrhundertkünstlers. Wegen eines jahrelangen Erbschaftsstreits hatte die Öffentlichkeit die Arbeiten von Oskar Schlemmer (1988-1943) bis dato – außer seinen Texten über Kunst – beinahe aus den Augen verloren. Nach dem Chaos des Ersten Weltkriegs stehen Schlemmers humanistische Visionen für die Sehnsucht nach Harmonie, Frieden und Gemeinschaft. Damit war er damals und besonders im Umfeld des Bauhauses nicht allein. Seine Vorstellung jedoch von einer Kunst, die Abstraktion und Figuration, rationale Konstruktion und Intuition, moderne Maschinenwelt und Zeitlosigkeit zu „Visionen einer neuen Welt“ verbindet, ist bis heute singulär geblieben….
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Heilung einer Chronophobie
Kurz vor Erreichen der Mitte seines Lebens (das laut Statistischem Bundesamt nach 76,5 Jahren zu Ende gehen wird) und gleichzeitig am Beginn einer neuen Lebensphase (nach Abschluss seines Filmstudiums an der Hamburger Kunsthochschule) spürte Philipp Hartmann, * 1972, eine lähmende Machtlosigkeit gegenüber der eigenen Vergänglichkeit. Zur Heilung seiner sog. Chronophobie, die man auch als Midlife-Crisis oder Burn-Out-Syndrom bezeichnen könnte oder einfach nur die Sorge um den Sinn unseres Lebens, musste eine Weg gefunden werden, das Vergehen der Zeit zu bremsen. Sein Film Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe ist ein Kaleidoskop an nachdenklichen, humorvollen Aspekten zu einem Thema, das uns alle beschäftigt. Die Zeit zu verstehen ist eigentlich ein auswegloses Unterfangen. So rätselhaft, so unfassbar, so widersprüchlich ist sie: Mal rast sie, mal dehnt sie sich, sie hinterlässt Spuren oder verbirgt sie; sie scheint gleichmäßig an einem Strang entlang abzulaufen und macht doch plötzlich Sprünge, dreht sich im Kreis, wiederholt sich oder weist über sich hinaus. Sie versetzt uns in die Zukunft oder in die Vergangenheit (selten in die Gegenwart). Und jeder nimmt sie anders wahr. Ein filmischer Versuch über die Zeit war für Philipp Hartmann deshalb ebenso vielschichtig, ambivalent und offen wie die Zeit selbst. Im Interview erzählt er, wie sich in seinem Film Dokumentarisches mit persönlichen Gedanken und fiktionalen Geschichten zu einem roten Faden verbinden….
Festival der Dichterinnen
Über 50 Lyrikerinnen aus 13 Ländern folgten der Einladung zum zweiten Schamrock-Festival der Münchner Künstlerinnen und Autorinnen Augusta Laar und Sara Ines Struck nach München sowie nach Wien. Den beiden Veranstalterinnen gelang eine Biennale der Superlative, die vier Tage lang den weiblichen Blick auf den aktuellen poetischen Kosmos in allen Facetten beleuchtete, mit Lesungen und Performances, Ausstellung und Diskussionen. Und viele kamen zum Lyrik-Festival in die Pasinger Fabrik. Einem Lyrik-Marathon, der die Konzentrationen des nicht nur weiblichen Publikums forderte: wenn Künstlerinnen aus Deutschland, Finnland, Galizien, Irland, Italien, Japan, Mexiko, Österreich und der Schweiz, Slowenien, der Türkei, der südsibirischen Republik Tuwa und den USA ihre „kreative Wut“ herausschleudern… Ein Auszug der Darbietung mit zehn internationalen Dichterinnen ist im aktuellen Heft veröffentlicht und nachlesbar…
Malerin ohne Grenzen
Wie ein großes Tuch fällt der schwere Stoff auf den Boden. Rund 150 Kubikmeter Schaumstoff türmen sich zu einer weichen, fließenden Form, deren Falten sich in den Raum ausbreiten. Der weiße Stoff wird zum plastischen Relief, zum Malgrund, der wie eine riesige Leinwand zu Boden zu gleiten scheint und gleichzeitig selbst zur bewegten Landschaft wird. Mit ihren ausladenden Arbeiten bezieht Katharina Grosse die Orte mit ein, an denen sie entstehen, erforscht sie nach ihrem Sinn und ihrer Geschichte. Sie verändert die Wahrnehmung des Raumes und kreiert mit leuchtenden Farben konkret neue Kompositionen. Katharina Grosse zählt bereits seit Jahren zu den international bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Generation. Das obige Titelbild „The floor up more highly“ stammt von ihr …
„Ich bin ein Sender“
So lautet der Titel einer Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne über die Multiples von Joseph Beuys. Er sah sich selbst als Sender und sah in den Multiples „Antennen“, die seine Visionen in die Welt ausstrahlen sollten. Seit Mitte der 1960er Jahre bis zu seinem Tod 1986 schuf der einstige als „homo religiosus“ verklärte Meister zahlreiche Multiples – preiswerte, in kleiner bis hoher Auflage produzierte Kunstwerke, durch die er seine Ideen einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Von den über 500 von Beuys in sehr unterschiedlichen Formaten und Materialien kreierten Vervielfältigungen werden erstmals an die hundert Arbeiten aus dem Bestand der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen präsentiert…
Das Salz der Erde
Auf den Filmfestspielen von Cannes und während des Münchner Filmfests erhielt er euphorischen Applaus: Wim Wenders neuer prämierter Dokumentarflm „The Salt of the Earth“ ist eine Hommage an den 70jährigen brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado, der auf allen Kontinenten die Spuren der sich wandelnden Welt und ihrer Geschichte dokumentierte. Er wurde Zeuge von Kriegen, Vertreibungen, Genozid, Hungersnöten und Leid. Entstanden sind überwältigende Schwarz-Weiß-Bilder, die gleich zu Beginn des zweistündigen Film unter die Haut gehen. Der Film kommt am 30. Oktober in die deutschen Kinos…
Romantiker und Illusionist
Bildender Künstler, Bühnenbildner oder Regisseur – Hans Op de Beeck lässt sich nicht auf ein einziges Genre festschrieben. Er agiert virtuos in allen künstlerischen Gattungen und kreiert Szenarien, in die er den Betrachter einbezieht. Seine Werke erzählen melancholische Geschichten vom schleichenden Vergehen der Zeit. „Meine Werke sind ein Kommentar zu unserer tragikomischen menschlichen Lage, dazu, wie wir unseren Lebensraum im Kleinen wie im Großen nach Art eines Bühnenbildes manipulieren, und dazu, wie wir in dieser anthropomorphisierten Umwelt versuchen, unsere eigene Irrelevanz und Sterblichkeit mit Ritualen und Gewohnheiten abzuwenden“, so der Künstler. Doch unterlegt Op de Beeck diese Dramatik in seinen subtilen Arbeiten oft mit einer Prise Absurdität und Humor… Im Interview des neuen Heftes von CU(L)T können Sie mehr über diesen außergewöhnlichen Künstler erfahren…
Das Menschenschwein im Visier
Kein anderer schildert so drastisch die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ und ihre gesellschaftlichen Folgen wie der Zeichner und Maler George Grosz. Schon vor dem Krieg hat er ein Faible für das Groteske in Vergnügungsparks und Abnormitäten-Kabinetten. Seine grafischen Mappen und Illustrationen für Zeitschriften sowie spektakuläre Prozesse wegen Beleidigung der Reichswehr und Verletzung der bürgerlichen Moral machen ihn in den 1920er Jahren zum bekanntesten deutschen Künstler. Mit Beginn des Krieges beherrschen seine Bildwelt die Antagonismen von Grauen und Humor, mit denen Grosz die traumatischen Kriegserlebnisse zu bewältigen sucht. Die traumatischen Erlebnisse seines Kriegsdienstes protokolliert er in unzähligen stenogrammartigen Skizzen von Toten und Schlachtfeldern. Er schildert, wie der Krieg die Stadt und die Zivilbevölkerung erreicht hat, indem die Allgegenwart von Gewalt, Mord und Totschlag die Menschen in unmoralische, groteske Wesen verwandelt. Mit seinem messerscharfen Strich wurde Grosz zum schärfsten Kritiker der Nachkriegszeit…
Schwangengesang
Ein selbstironischer Rückblick auf eine vergangene Bühnenkarriere kam im Münchner i-camp/ neues theater zur Uraufführung. Autobiografisch analysiert eine ehemalige Profitänzerin ihr Berufsleben und deren Glanzleistungen und rechnet mit dem irrwitzigen Trainingsalltag ab. Unter dem Motto „Schwangengesang“, so bezeichnen Eingeweihte den letzten Auftritt eines Künstlers, inszeniert sich Annett Göhre in vehementen Gesten und Posen selbst… Es ist eine Seelenlandschaft der eisernen Disziplin, bestimmt von vorgerechneten 239.299 Tendus aus jahrzehntlangem täglichen Ballett-Training. Man leidet mit dieser zerrissenen Persönlichkeit, deren fragiles Leben im Hier und Jetzt verzweifelt nach Verortung sucht in einem störungsanfälligen, schmerzvollen Balanceakt. Und die doch an die poetische, inspirierende Kraft des Tanzes glaubt, und sich mit einem letzten großen Lachanfall wohl damit ausgesöhnt hat, dass professionellen Bühnentänzerinnen naturgemäß eine sehr kurze Berufslaufbahn beschieden ist…
Homo politicus Ai Weiwei
Jeden Tag dekoriert er einen Fahrradkorb vor seinem akribisch bewachten Atelier in Peking mit einem frischen Blumenstrauß als Zeichen des Friedens – bis er wieder frei reisen darf. Ai Weiwei wird dennoch in seiner weltweit größten Einzelausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin, 7357 Kilometer von Peking entfernt, imaginär dabei sein. Auf 3000 qm in 18 Räumen und im Lichthof zeigt Chinas bekanntester Künstlerdissident Werke und Installationen, die noch nie zuvor in Deutschland gezeigt wurden. Vierzig Tage waren die Container mit Ai Weiweis politisch hochbrisanter Kunst zuvor auf dem Pazifik unterwegs gewesen – von Peking aus über den Hafen Dalian nach Berlin verschifft, für die große Schau mit dem hieb- und stichfesten Titel „Evidence“ – zu Deutsch Beweis. Die Exponate dokumentieren wie Indizien in einem Gerichtsprozess sein Leben und seine künstlerischen Aktivitäten. Im Ausland gefeiert, in China angefeindet, das erlebt Ai Weiwei seit Jahren, nachdem er mit dem Regime in seiner Heimat, auch öffentlich hadert. Die Folge waren persönliche Repressalien, Ausreisverbote, Gefängnisaufenthalte, Misshandlungen. Das alles hat er in seinen fotografischen Arbeiten dokumentiert. Das Handeln der Staatsmacht wird Teil seiner Konzeptkunst…