Homo politicus Ai Weiwei

Jeden Tag dekoriert er einen Fahrradkorb vor seinem akribisch bewachten Atelier in Peking mit einem frischen Blumenstrauß als Zeichen des Friedens – bis er wieder frei reisen darf. Ai Weiwei wird dennoch in seiner weltweit größten Einzelausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin, 7357 Kilometer von Peking entfernt, imaginär dabei sein. Auf 3000 qm in 18 Räumen und im Lichthof zeigt Chinas bekanntester Künstlerdissident Werke und Installationen, die noch nie zuvor in Deutschland gezeigt wurden. Vierzig Tage waren die Container mit Ai Weiweis politisch hochbrisanter Kunst zuvor auf dem Pazifik unterwegs gewesen – von Peking aus über den Hafen Dalian nach Berlin verschifft, für die große Schau mit dem hieb- und stichfesten Titel „Evidence“ – zu Deutsch Beweis. Die Exponate dokumentieren wie Indizien in einem Gerichtsprozess sein Leben und seine künstlerischen Aktivitäten. Im Ausland gefeiert, in China angefeindet, das erlebt Ai Weiwei seit Jahren, nachdem er mit dem Regime in seiner Heimat, auch öffentlich hadert. Die Folge waren persönliche Repressalien, Ausreisverbote, Gefängnisaufenthalte, Misshandlungen. Das alles hat er in seinen fotografischen Arbeiten dokumentiert. Das Handeln der Staatsmacht wird Teil seiner Konzeptkunst…

Die Göttliche Komödie

In seinem Epos aus dem frühen 14. Jahrhundert, das zentrale Gedanken des Christentums mit Glaubensvorstellungen aus der Antike verbindet, setzt sich Dante mit theologischen, philosophischen und moralischen Fragen auseinander, die bis heute von gesellschaftlicher und politischer Brisanz sind. Im Museum für Moderne Kunst Frankfurt ließen sich afrikanische Gegenwartskünstler von Dantes Werk inspirieren mit dem Fokus auf „Himmel, Hölle, Fegefeuer“. Dabei entwerfen sie die Jenseitsreiche mal als gottlose Orte, die durch die bloße Vorstellungskraft zum Leben erweckt werden. Andere Arbeiten visualisieren Göttlichkeit, Hoffnung oder Verlust. Die preisgekrönte Fotografin Aïda Muluneh aus Äthiopien erläutert ihre Motive so: „Wenn ich an Himmel und Hölle denke, sind das nicht Orte, die in einer anderen Welt existieren, sondern eher allgegenwärtig in dieser Welt; wir müssen nicht sterben, um sie zu finden… Das Inferno besteht aus Geschichte, nicht nur der eines Landes, sondern des Selbst, des Exils, des Blutvergießens, des Verlusts, der Trauer, der Bitterkeit, der gebrochenen Herzen und gebrochenen Flügel“. Das Titelbild dieser CU(L)T-Ausgabe stammt auch von ihr. Es zeigt eine Äthiopierin mit weißer „Haut“ als Symbol für den sozialen Aufstiegskampf und Händen rot wie die dazugehörige Schuld…

Avantgardistin der Erotik

Seit den 1960er Jahren gilt Dorothy Iannone als Pionierin im Kampf gegen Zensur, für freie Liebe und weibliche Sexualität.  Die US-amerikanische Künstlerin nimmt in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine  ungewöhnliche Stellung ein. Ihr großes Thema ist die ekstatische Liebe. Die Berlinische Galerie zeigt in der Ausstellung „The Sweetness Outside of Time“ mit 150 Werken nicht nur Gemälde und Objekte, sondern auch ihre autobiografischen Bücher und Filme aus den Jahren 1959 bis 2014. Künstlerisch und konzeptionell geht sie bis heute kompromisslos ihren eigenen Weg, obwohl ihre Arbeiten immer wieder wegen angeblich pornografischer Inhalte zensiert wurden. Ein Auslöser für die erotische Explosion in ihrem Werk ist die Begegnung mit dem Fluxus-Künstler Dieter Roth, ihrer großen Liebe. Zusammen mit ihrem Mann und Fluxus-Künstler Emmett Williams reist sie auf einem Frachter nach Reykjavik, um dessen Freund Roth zu besuchen. Der steht, einen frischen Fisch in Zeitungspapier gewickelt, am Pier. Für die Künstlerin eine Offenbarung, ihr Leben zu verändern, ihren Mann zu verlassen und mit dem neuen Partner auf Island, in Basel, London und Düsseldorf zu leben. Nach dieser Begegnung hat Iannone den Mut, verdrängte Erotik freizulegen und ihre eigenen sexuellen Freuden, die Amour fou, zum Gegenstand ihrer Kunst zu machen.  Wenn sie die Schönheit des männlichen wie weiblichen Körpers, selbstbewusste weibliche Sexualität und die vielen Spielarten der Lust in Bild und Text preist, tut sie es explizit aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen…

Dokumentarfilm „Watermark“

Kein Element ist so lebensnotwendig, scheint gleichzeitig unerschöpflich und wird doch langsam, aber sicher knapp. Der Umgang des Menschen mit dem kostbaren Element verändert und prägt das Gesicht unserer Erde. Der kanadische Dokumentarfilm „Watermark“ der mehrfach ausgezeichneten Regisseurin Jennifer Baichwal und dem international bekannten Fotografen Edward Burtynsky erzählt in faszinierenden Bildern vom wichtigen Energieerzeuger und Sehnsuchtsort vieler Menschen. Gigantische Wassermassen schießen mit enormer Wucht aus einem Staudamm hervor, schlagen mit tosendem Dröhnen an die Kaimauer. Plötzlich Stille: Zu sehen ist ein ausgetrocknetes Bett des einst mächtigen Colorado River, in dessen Boden sich Furchen wie Verästelungen eines gekrümmten Riesenbaumes gegraben haben: eine malerische Luftaufnahme nahe San Felipe in Baja California, Mexiko von 2011. Mit diesem spektakulären Kontrast beginnt ein beeindruckender Film, der in zwanzig Geschichten aus zehn Ländern rund um den Globus die Lebensnotwendigkeit und Schönheit des Elements Wasser aufzeigt (Filmstart in deutschen Kinos am 15. Mai)…

Singuläre chinesische Lyrik

Im Gegensatz zu seinen dark blue poems, wie er sie selber nennt, in deren Zentrum der frühe Tod seiner Mutter steht, strahlt der Dichter Lian Yang einen fröhlichen Optimismus aus. Mit Verve, ausdrucksstarker Leidenschaft und ausladender Gestik liest er im Münchner Lyrik Kabinett aus seinem neuen Gedichtband „Die Konzentrischen Kreise“. Das Podium ist nicht voll besetzt, zumal nur wenige der Anwesenden des Chinesischen mächtig sind. Diese Verständigungslücke füllt dafür Yang Lians langjähriger Übersetzer Wolfgang Kubin, der außerdem nötige Erklärungen beisteuert. Trotz seines Fluges am nächsten Morgen zur Lesung in Rom hat Yang noch Zeit für ein ausführliches Interview… (im aktuellen Heft auf den Seiten 46 bis 48).