Zwischen Genie und Wahnsinn

Mit seiner typischen Unbescheidenheit forderte Salvador Dalí, der umstrittene und wohl bekannteste Meister des Surrealismus, damals von den Kuratoren der Pariser Retrospektive 1979 für sich eine prächtige, ja kolossale Schau, eine Art lebende Apotheose, die jedem zu verstehen geben sollte, „mich kann niemand imitieren. Der einzige Unterschied zwischen mir und den Surrealisten ist, dass ich der Surrealist bin“.  Jetzt, ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, versucht das Centre Pompidou in Paris eine völlig neuartige Rückschau und Rehabilitation des komplizierten Geistes mit dem Zwirbelbart und seiner vor allem in der Kunstszene kontrovers diskutierten Werke… Den Auftakt bildet das Entree der Schau, die den Besucher durch eine riesige eierschalenartige Struktur in den Bauch der Inszenierung  katapultiert. Der erste Blick fällt dabei auf die Wand mit einem berühmten Foto von Philippe Halsman, das Dalí nackt in gekrümmter Fötushaltung zeigt. Und aus dem Off ertönt die knarrende Stimme des Abgebildeten, der vom Trauma der eigenen Geburt erzählt. Hier beginnt die Familien- und Künstlergeschichte Dalís – ein von schmerzvollen Erlebnissen seiner Kindheit geprägter, fast magischer Ort auf der anderen Seite der Pyrenäen mit Felsen, Zypressen,  das Meer,  Licht und Schatten, die seine Bilder und Gedanken dominieren. Hier entwickeln sich die Mythen einer dualen Persönlichkeit, eines Wilhelm Tells als Alter ego.

Spektakel der Leere

Im Zirkus macht das Leben normalerweise fantastische Sprünge. Davon bleiben im Kunsthaus Zürich nur Requisiten, Kostüme und Accessoires. Das Spektakel ist der Leere gewichen. Über allem hängt die rot-gelbe Hülle eines  Zeltes mit seinen bunten Wimpeln von der Decke herab und scheint sich am Boden auszubreiten. In der Ausstellung geht es der  französisch-marokkanischen Künstlerin Latifa Echakhch um das Ende dieses „Hier und jetzt“.  Sie beklagt damit die innere Leere unserer Event-Gesellschaft und die Tatsache, dass heute alles so schnell geht, dass es daher eigentlich immer schon vergangen ist. Die Vorstellung von etwas, das nur in seiner Abwesenheit vorhanden ist, beschäftigt die 38jährige seit längerem.  Sie reflektiert auch den oftmals voreingenommenen Blick auf nationale und religiöse Identitäten in poetischen und zugleich konzeptionellen  Arbeiten. So 2008 in der Ausstellung  „Shifting Identities“  mit schwarz bemalten, leeren Fahnenstangen, die sich im Raum überkreuzten.  Oft verrät der Titel erst die Thematik – wie auch bei der Installation „Stoning“ von 2010. Harmlos am Boden liegende Steine rufen plötzlich Bilder von brutalen Steinigungen hervor. Inzwischen hat die Künstlerin an der Biennale Venedig  2011 und an der Sydney  Biennale 2012 teilgenommen.

Mein Körper und ich

Körpergefühle sind optisch schwer zu definieren.  Die österreichische Künstlerin Maria Lassnig versucht sich darin schon seit über sechs Jahrzehnten. Das tut sie nicht narzisstisch, sondern in einer zu Bildern geronnenen Gefühlssprache, die das Bewusstsein mit kritischer Distanz erkundet. In den oft verblüffend einfachen Zeichnungen verschmelzen subjektive Körperlichkeit mit objektiver Dinglichkeit. Gliedmaßen verwandeln sich in Gegenstände mit Witz und Selbstironie. Die anatomische Grenze scheint aufgehoben, Identität fraglich geworden. Stattdessen nehmen die intimsten Ängste, Wünsche, Zwänge und Fantasien Gestalt an.  Aus einer physischen Dynamik heraus malt die Künstlerin großformatige innere Visionen ihrer Selbst  durch unmittelbar körperliche auf das Bild übertragene Meditation. So erarbeitet sie sich ihre Gemälde nicht nur vor der Leinwand stehend,  sondern auch im Liegen, Sitzen oder sich auf sie stützend. Oft schließt sie beim Malen die Augen, um ihre Empfindungen wie Trauer, Freude oder Glück oder auch Druck- Spannungs- und Ausdehnungsgefühle besser zu spüren und zu visualisieren. Nach außen gestülptes Innenleben beherrscht auch die Aquarelle, deren Farben Maria Lassnig so definiert: „Die Stirne bekommt eine Gedankenfarbe, die Nase eine Geruchsfarbe… es gibt Quetsch- und Brandfarben, Todes- und Verwesungsfarben, Krebsangstfarben   –  das sind Wirklichkeitsfarben.“

Eine fotografische Legende

Wo liegen die Grenzen von Kunst und Pornographie? Das Œuvre von Robert Mapplethorpe ist mit den Begriffen Sex und Exzess, Begierde und Dominanz untrennbar verbunden. Diese Allianz macht ihn auch heute noch, 25 Jahre nach seinem Tod,  zum umstrittenen,  aber dennoch zu einem der großen Fotografen unserer Zeit… Seine Fotos männlicher Akte irritieren mit ihrem Mix aus Schock und Schöpfung. Berühmtheit erlangt er zunächst mit klassischen Kompositionen von Stillleben und Blumen, den „New York Flowers“. Als fotografischer Autodidakt hat er lange mit diesen Sujets experimentiert und diese später zusammen mit Phalli präsentiert: „I look für the perfection of form. I do this in portraits, in photography of penises, in portraits of flowers. I’ve tried to juxtapose a flower, then a picture of a cock, then a portrait, so that you could see they were the same“.  Die Aufregung  im sogenannten  amerikanischen Kulturkrieg der 1980er Jahre war groß, als Mapplethorpe seine Fotos auf den Markt bringt. Homoerotische Praktiken und immer wieder entblößte Männerkörper, in schlichtem Schwarz-Weiß inszeniert, sorgen in seiner Heimat für Empörung. Doch die Avantgarde feiert inzwischen die Werke des Katholiken als große Kunst.  Mapplethorpe war nicht nur kühler Porträtist einer New Yorker Gesellschaft, der formversessene Beobachter der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. In seinen Bildern konfrontiert er die Menschen  mit ihren Vorurteilen, ihrem Verhältnis zur schwarzen Minderheit, ihrer Haltung zum Feminismus und zu sexuellen  Minoritäten. Exhibitionistisch und intim, romantisch und brutal zwingt seine Bildsprache dazu, die Welt auf neue Art zu sehen.

Coming-out des nackten Mannes

Über nackte Haut regt sich heute keiner mehr auf, könnte man meinen. Auch nicht im Museum, wo die gezeigten Nackten meist Frauen sind. Doch wenn Männer alle Hüllen fallen lassen? Anders als die überlebensgroße, begehbare Skulptur „Mr. Big“ vor den Toren des Wiener Leopold Museums, das vom Publikum vielfach in Besitz genommen wurde, verursachte das Plakat zur Ausstellung „Nackte Männer“ gewaltigen Aufruhr. Die explizite Darstellung von drei nackten Fußballern aus der subversiven Kitschfabrik von Pierre & Gilles mussten die Macher deshalb überkleben. Eine Publicity-trächtige Aktion mit der Botschaft:  Wer „alles“ sehen will, muss ins Museum.  So eine Schau nackter Männer hat es bisher noch nicht gegeben.  Gleich zwei österreichische Museen holten die „Nackerten“ aus ihren Depots und aus privaten Sammlungen.  Erst seit mehr als 100 Jahren gibt es in der Bildenden Kunst Werke, worauf sich die Herren in voller Pracht präsentieren.  In einem groß angelegten Bogen über zwei Jahrhunderte thematisiert die Wiener Ausstellung unterschiedliche künstlerische Zugänge, konkurrierende Männlichkeitsmodelle und den Wandel von Körper-, Schönheits- und Wertvorstellungen. Was passierte jedoch, als der Blick des Malers vom nackten Vis-à-Vis zum entblößten Ich weiterwanderte und im Künstlerselbstakt ein Fanal der Moderne entstand?  In Wien geben Egon Schieles tabulose Selbstbespiegelungen eine Antwort darauf. – Die Ausstellung in Linz beleuchtet dagegen mit ihrer Retrospektive des nackten Mannes im 20. und 21. Jahrhundert dessen Krisen der Identität und Phasen der Souveränität. Sie spürt Versuche der Dekonstruktion von traditionellen Männlichkeitsbildern und die Suche nach Alternativen auf. Sie zeigt die Auseinandersetzung mit Schwäche und Verletzlichkeit, schildert den Blick des Begehrens und die erotische Pose.

Gnadenlos komisch

Witz, Ironie, Satire oder auch Sarkasmus in der Kunst erscheinen landläufig eher als männlich geprägte Eigenschaften. In einem Streifzug von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart zeigt die Kunsthalle Vogelmann in Heilbronn, dass auch Künstlerinnen spezifische Formen des Komischen als Strategie und Methode in ihren Werken zu nutzen wussten und damit auf Gesellschaft, Politik und Kunst reagierten. Ausgehend von frühen Slapstick-Filmen um 1900 spannt sich der Bogen bis in die jüngste Gegenwart. Von Beginn an setzten Künstlerinnen das Komische in ihren Arbeiten ein, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgewählte Zeichnungen, Collagen, Aquarelle und Objekte von Marianne Werefkin, Hannah Höch, Jeanne Manmen, Hanna Nagel und Meret Oppenheim reflektieren. In den politischen 1960er Jahren findet sich das Komische mit Nachdruck in Pop-Art und  Fluxus, und die Forderungen der Frauenbewegung geraten in das Blickfeld der Kunst. Selbstironisch und mit bissigem Sarkasmus kritisierten und prangerten bekennende Feministinnen wie Valie Export, Eleanor Antin, Martha Rosler oder Birgit Jürgensen tradierte Verhältnisse an.  Legendär ist die gemeinsam mit dem Künstler Peter Weibel 1968 veranstaltete Performance von Valie Export „Aus der Mappe der Hündigkeit“. Das Museum für moderne Kunst Stiftung Ludwig berichtete damals: „Es kam zu einigen Zwischenfällen, wobei die sexuelle Dimension der Aktion – Mann als Hund am Gängelband der Frau, Sadismus/Masochismus/ Matriarchat – am meisten Beklemmung hervorrief“.  Weniger beklemmend als vielmehr befremdlich wirken da die Alltagsgegenstände der palästinensischen Künstlerin Mona Hatoum mit einem überdimensionalen  Gurkenhobel  „Paravent“ von 2008 sowie Rosemarie Trockels seltsamer Herd „Ohne Titel“ von 1991, auf dem frau garantiert nicht kochen kann.

Versuch anzukommen

Als der Tag wiederkam
Blieb ich meiner Schwäche treu
Meine Illusion, sie war zerschlissen wie ein Seil
Und mein Kleid war geflickt
Allmählich entstand eine Fata Morgana
Auf den Hügeln irrten Lichter umher.

Ich suchte Hilfe in der Gegenwart
Im Läuten, in einer vom Tag verlassenen Stunde
Ich wandte mich ans Vergessen
An eine Mauer und einen toten Skorpion.

Ich wartete
Auf etwas, das mich antreiben würde
Auf eine Blume, um meinen Einfall zu bündeln
Um heimlich zu schmelzen
Und zu verschwinden.

Aufbrechen wollt‘ ich
Noch weiter fortgehen
Ich wollte entschwinden
Und als die Tage sich häuften
Und die Erinnerungen sich entfernten
Glitzerten dort die Sterne
Und ich erhielt eine streunende Seele zurück
Eine Nacht, die Tränen blutete
Und hielt den Faden
und zog daran, um anzukommen.

Khalid Al-Maaly: 1956 in Irak geboren, 1979 Flucht nach Frankreich aus politischen Gründen, 1980 Antrag auf politisches Asyl in der BRD, 1983 Anerkennung als politischer Asylant, seit 1996 deutscher Staatsbürger.