Powerwalk im Wind

Zwei  Männer mit Windrädern auf ihren Rucksäcken in eisiger Ödlandschaft – ein Unternehmen aus Absurdistan zweier Verrückter oder etwa  gar das Bild einer Fata Morgana wie in der Wüste? Keineswegs! Es handelt sich um das Projekt „Powerwalk“ der Münchner Extremkünstler und Bergsteiger Thomas Huber und Wolfgang Aichner. Sie wollen Europas größten Gletscher, den isländischen Vatnajökull erklimmen. Jeder der beiden hat an die 30 Kilo auf dem Buckel zu verkraften. Im Herbst letzten Jahres startet das Künstlerduo GÆG mit seinen selbstgebastelten, mobilen Windrädern die kräftezehrende Tour von über 60 km Aufstieg. Bewältigen wollen sie eine Strecke vom Basislager bis zur Schutzhütte der isländischen Eisforscher auf 2000 m am Kraterrand des subglazialen Zentralvulkans Grimsvötn…. Was treibt die beiden an? Sie begreifen ihr Projekt als eine Art Selbstversuch, ob sich Windenergie quasi dezentral über menschliche Energiestationen gewinnen ließe. Diese politisch-ironische Aktion soll zum Nachdenken animieren über die Energie-Versorgung als zentraler gesellschaftlicher Herausforderung unserer Zeit….

Chasing Ice

Ein Film, der die Welt aufrütteln sollte: Die spektakuläre preisgekrönte Dokumentation „Chasing Ice“, eine Langzeitaktion in der Arktis, zeigt, dass sich der Klimawandel nicht mehr schönreden lässt. Im Frühjahr 2005 begab sich National Geographic-Fotograf James Balog für ein heikles Projekt in die Arktis: Er wollte den drastisch voranschreitenden Klimawandel mit der Kamera festhalten. Früher hat der Amerikaner, der selbst Geomorphologie studierte, die globale Erwärmung und die warnenden Prognosen der Klimaforscher noch allzu schwarz-malerisch gesehen. Als begeisterter Bergsteiger fing er irgendwann an, neben seiner „environmental photography“ auch Gletscher zu fotografieren. Was er da erblickte, änderte seine Ansicht zum Klimawandel und animierte ihn 2007 dazu, sein ehrgeizigstes Projekt ins Leben zu rufen: EIS, Extreme Ice Survey – Eis unter extremer Beobachtung. Damit wollte er die weltweit dramatische Gletscherschmelze den Menschen visuell bewusst machen – nicht als Schrecknisse, sondern wie ein Porträtfotograf in Bildern, deren Schönheit etwa Richard Avedon in einem vom Leben gezeichneten Antlitz fand….  Im Film „Chasing Ice“ hat Balog dokumentiert, wie Gletscher, die seit Tausenden Jahren existierten, mit rasender Geschwindigkeit verschwinden. Am spektakulärsten sind atemberaubende Szenen mit der Videokamera, die man vorher so noch nie gesehen hat: Mit ohrenbetäubenden Getöse stürzen riesenhafte Eismassen etwa von der Größe Manhattans zusammen, schieben sich ächzend aus dem Inneren nach, als würde die Erde erbrechen….

Globaler Aktivismus

Durch Aktionen von Kleingruppen wie Pussy Riot oder Massenbewegungen wie Occupy und vielen anderen sind in letzter Zeit wiederholt spektakuläre Protestbewegungen in den Fokus einer weltweiten Öffentlichkeit gerückt. Auf völlig verschiedenen Ebenen zeigen sie, was im weitesten Sinn bürgerschaftliches Engagement bewirken kann. Einerseits wird von einer Krise der Demokratie, sogar von einer Postdemokratie, gesprochen. Andererseits beteiligen sich immer mehr Menschen weltweit an vielfältigen bürgerlichen Aktionen, die im öffentlichen Raum auf Missstände aufmerksam machen und zur Veränderung bestehender Verhältnisse auffordern. … Kunst und Handlung gingen seit der Expansion der Künste eine neue Fusion ein, die sich immer mehr aus der rein künstlerischen Intermedialität löst und sich zunehmend auf soziale und humane Situationen konzentriert. So ändern sich auch die Arbeiten der Künstler:  Statt Ölgemälden entstehen Flugblätter, Plakate, Graffitis bzw. Street Art. Anstelle von Holzskulpturen entstehen Onlineportale, Transparente, Medienauftritte. Aus Kunstfilmen werden Youtube-Videos….

Haut als Leinwand

Ab und an räkelt sich der Mensch auf dem Sockel, dann bewegt sich auch das Bild auf seinem Rücken. Sein Träger hingegen dürfte sich inzwischen daran gewöhnt haben. Zur Eröffnung der Winterthurer Ausstellung „Tattoo“ war er als lebendes Kunstwerk zugegen. Seine Haut verkaufen tun viele, das weiß auch Tim Steiner, der Mann, der die Redensart wörtlich genommen hat: „Viele Menschen stellen einen Teil von sich jemandem gegen Entgelt zur Verfügung. Solange das ihre Kopfarbeit oder ihr handwerkliches Können ist, stößt sich niemand daran. Ich habe meinen Rücken verkauft, ich stehe dazu und verstoße damit bewusst gegen gesellschaftliche Regeln.“  Das Bild stammt vom belgischen Künstler Wim Delvoye und zeigt eine Madonna, auf der ein Totenkopf nach Art mexikanischer Todesrituale thront, umschwärmt von Fledermäusen und Schwalben, eingebettet in rote und blaue Rosen. Seit 2008 gehört das Werk einem Hamburger Kunstsammler für den Preis von 240.000 Franken, davon ging ein Drittel an den Träger. Nach dessen Tod darf das Bild chirurgisch entfernt und konserviert werden. Ein makabrer Deal?….

Kunst macht sichtbar

Eine großartige Ausstellung  „Making Visible“ in der Londoner Tate Gallery lässt die fantastische Welt von Paul Klee neu entdecken. Man spürt die Spontaneität des Künstlers, die sich durch sein strenges Kompositonskonzept zwar niemals selbständig macht, sich dafür umso mehr hybridartig des Kubismus, Surrealismus, Symbolismus und Expressionismus bedient.  Der Künstler beginnt jedes Bild mit einem Vier- oder Dreieck, Kreis, Linie oder Punkt, von wo aus er das Motiv bewusst entwickelt oder wachsen lässt, fast wie bei einem lebendigen Organismus…. Der Museumsrundgang in London, beginnend mit den ersten Werken  Paul Klees als Mitglied der „Blauen Reiter“ in München 1913 über die farblichen Einflüsse seiner Tunesien-Reise und die karikaturhaften Werke zum Untergang des Kaiserreichs bis zum Bauhaus und zur Verfolgung in der Nazi-Zeit, endet mit dem Bild „Dämmerblüten“.  Es ist Klees letztes Werk, das er noch auf dem Krankenbett, von schwerer Sklerodermie gezeichnet, Anfang 1940 schuf….

Unruhe im Olymp

Er darf, was noch niemand durfte: Er schreibt Gedichte an die Wände des neuen Grass-Hauses in Lübeck: Mit Wachsmalstiften präsentiert Markus Lüpertz erstmals seine Wortkünste, die mit den anderen Kunstobjekten im Raum korrespondieren. Lyrische Reflexionen über Kunst, Mythos und Künstlertum treten auf diese Weise im Sinne eines innovativen Gesamtkunstwerks zu seinen bildenden und plastischen Arbeiten in Beziehung. Themen der Schau sind Kunst, Liebe, Krieg und Tod. Auch die Persönlichkeit und sein musikalisches Talent werden beleuchtet: Im Lübecker Theater tritt Lüpertz  gemeinsam mit seiner Jazzband auf. Einen Bogen von der Musik zur Literatur schlägt er dabei durch die Rezitation seiner in der breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannten Gedichte.  Wegen seines egozentrischen Auftretens und seines extravaganten Lebensstils wird der 72jährige oft als „Malerfürst“ bezeichnet.  In der Kunstszene ist er spätestens seit 1982, als er zur Documenta VII nach Kassel eingeladen wird, auch international eine Größe…

Spurensuche eines Einzelgängers

Ronald B. Kitaj ist eine schillernde Persönlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein  vielschichtiges Werk vereint Elemente des Surrealismus mit der Pop Art und steckt voller Verweise auf Vorbilder aus Kunst und Literatur. So finden sich beim ihm Zitate aus der Kunstgeschichte, von Renaissance-Malern wie Giotto und Fra Angelico bis zu Manet, Cézanne und Matisse. Seine komplexen und mysteriös anmutenden Bilder wirken bisweilen rätselhaft und provokant. Zusammen mit David Hockney, Frank Auerbach und anderen Künstlern gehört R.B. Kitaj zu den zentralen Vertretern der School of London, die in den 1960er Jahren begannen, mit einer farbintensiven, figürlichen Malweise Alternativen zur vorherrschenden abstrakten Stilrichtung zu realisieren. Für Kitaj, der in einer jüdischen Familie zur Welt kam, wurde das Judentum ab den frühen 1970er Jahren zu seinem Lebensthema, nachdem er von Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess erfuhr. Auf der Suche nach der jüdischen Kunst widmete er sich intensiv dem Problem von Identität im Judentum:  „Ganz und gar Amerikaner, im Herzen Jude… verbringe ich meine Jahre weit entfernt von den Ländern, an denen mein Herz hängt… In der Diaspora habe ich erfahren, dass man frei ist, alles zu wagen, an vielen anderen Orten kann man das nicht“  …

Surrealistische Rebellin

Meret Oppenheim zählt zu den bedeutendsten und eigenwilligsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit „Frühstück im Pelz“, ihrer berühmten Pelztasse, wird die skandalumwitterte Muse bereits in jungen Jahren zur Legende und wichtigsten Vertreterin des französischen Surrealismus. Ihr spielerisch-humorvoller Umgang mit Alltagsmaterialien, die sie in immer neue, ungewöhnliche Sinnzusammenhänge transferiert, geriert zu ihrem Markenzeichen. Dabei schert sie sich nicht um Stil und Form: „ich realisiere Idee, wie sie mir in den Kopf kommen“. Auch ihr bedeutendstes Werk verdankt sie einer beiläufigen Idee. Sie verdient sich in Paris ihr Geld mit Pelz überzogenen Armbändern. Man könne alles mit Pelz überziehen, scherzt Picasso. So überzieht sie Tasse, Unterteller und Löffel – und schafft eine Ikone des Surrealismus.  Mythen , Spiele und Träume dienen Meret Oppenheim als Quellen, ebenso wie literarische Vorlagen:  „Jeder Einfall wird geboren mit seiner Form.  Man weiß nicht, woher die Einfälle einfallen. Sie bringen ihre Form mit sich, so wie Athene behelmt und gepanzert dem Haupt des Zeus entsprungen ist, kommen die Ideen mit ihrem Kleid“ …

Biennale von Venedig

Sie präsentiert sich als ein überwältigendes und überraschendes Labyrinth. Allein Massimiliano Gionis „Palazzo Enciclopedico“ im Arsenale und im Zentralpavillon der Giardini umfasst Werke von 170 Künstlern, dazu kommen Länderpavillons von 88 Nationen, 47 Nebenausstellungen und weitere Stationen der Stadt. Die diesjährige Biennale wirkt wie ein Museum auf Zeit, in dem der Markt keine Rolle spielt und auch Outsiderkunst berücksichtigt wird. Für den 39jährigen Kurator „müssen nicht immer hundert neue Künstler entdeckt werden“. Vielmehr konzentriert er sich lieber auf „Künstler mit kulturell unangepassten Charakter“.  Vom Modell „Enzyklopädischer Palast“ des amerikanischen Hobbyarchitekten Marino Auriti von 1950, das den Parcours im Arsenale anführt, lieh sich Gioni den Titel der Biennale. Die in einer Garage gebastelte, fünf Meter große Skulptur sollte einmal als Wolkenkratzer das gesammelte Weltwissen aufnehmen und in Washington errichtet werden, wozu es freilich nie kam.  387 akribisch gezimmerte Hausmodelle des Beamten Peter Fritz stehen wie selbstverständlich auf einer Stufe mit Cindy Shermans Sammlung ihrer Rollenspiele und Selbstinszenierungen oder Pawel Althamers „Venetians“, die einen ganzen Saal besetzen. Der Künstler hat für seine Installation die Gesichter der „letzten“ echten Bürger Venedigs abgegossen und deren künstliche Gestalten aus grauen Plastiksträngen in friedliche Außerirdische verwandelt…

Agoraphobie als Metapher

In den letzten Jahren hat sich die türkische Kunst- und Kulturszene, besonders in Istanbul, rasant entwickelt: Junge türkische Künstler haben den Bruch mit der traditionellen Kunst ihres Landes vollzogen. Nach Jahren der Isolation meldete sich diese Künstlergeneration ein Jahrzehnt später auch international zu Wort und setzte politisch engagiert, ästhetisch radikal und mit neuen bildnerischen Argumenten maßgebliche Zeichen. Auch die seit 1987 ins Leben gerufene Istanbul Biennale gewann zunehmend an Bedeutung. Sie hat nicht nur in der Türkei einen hohen Stellenwert für die Kunst. Die Initiatoren der Biennale gaben der Berliner Prolog-Ausstellung den Titel „Agoraphobie“, um die Situation des öffentlichen Raums zu symbolisieren.  Sinnbildlich bedeutet Agoraphobie (Angst vor der Menge oder Angst vor offenen Plätzen) hier die Angst vor der freien Meinungsäußerung und vor kollektiven öffentlichen Aktionen. Wie real diese Angst ist, zeigt die Äußerung des türkischen Kulturministers vom letzten Jahr, der die Kunst als „Hinterhof des Terrorismus“ bezeichnete. Publizisten, Journalisten und Künstler sitzen im Gefängnis. Die Ausstellung sowie die Istanbul Biennale analysiert daher die Politik des Raums als „unvermeidlichen Vektor von Freiheit und urbane öffentliche Plätze als räumliche Komponente des demokratischen Systems“…